Eines Menschen Flügel

 

Eines Menschen Flügel

Roman
von
Andreas Eschbach


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Die Tochter des Signalmachers

Owen verkroch sich in seine Schlafkuhle und bekam Fieber, das mehrere Tage dauerte. Seine Flügel wiesen Erfrierungen auf, wunde Stellen und geplatzte Blutgefäße, und sie sollten noch lange schmerzen. Er schlief und zitterte dabei, träumte heiße Träume, in denen er mit dem Himmel rang, und wenn er abstürzte, wachte er schreiend auf.

»Was ist nur anders mit dir, mein Sohn?«, hörte er seine Mutter einmal an seinem Lager sagen.

Als das Fieber endlich nachließ, hatte die Frostzeit begonnen.

Sie dauerte lange dieses Jahr, und diesmal schloss sich gleich die Windzeit an mit machtvollen Stürmen. Die Segelfischschwärme blieben aus, wie immer, wenn die Trockenzeit ausfiel. Owen kletterte mit den Männern des Stammes am Nestbaum hinab, mit Halteseilen gesichert, um stattdessen Frostmoos zu ernten.

Eines Nachts, als es stürmte wie noch nie, zerrissen donnernde Laute die Luft, und der rote Schein von Notsignalen flackerte von weither über dem Wald. »Das Nest der Ris!«, schrie jemand. »Sie brauchen Hilfe!«

Owen hatte von Signalen gehört, aber noch nie welche gesehen. Er konnte seinen Blick kaum von den Feuerbällen wenden, die im fernen Südwesten für Augenblicke die stürmische Nacht mit blutrot aufflammendem Licht durchschnitten. Und er schloss sich ganz selbstverständlich den Männern an, die es wagten, durch den Sturm und die Dunkelheit zu fliegen, um dem Stamm der Ris beizustehen.

Der Sturm hatte ein Gewitter mit sich gebracht, und der Blitz hatte in einen der Hauptäste des Nestbaums eingeschlagen. Zwei Nesthütten waren zerstört, sechzig vom Absturz bedroht, darunter die Hütten, in denen die Vorräte lagerten. Im Licht rußender Sturmfackeln, während der Sturm ihnen die Fetzen nasser Blätter um die Ohren schlug, reichten sie schreiende Kinder von Arm zu Arm, wuchteten Kisten und Fässer aus den bedrohlich schwankenden Hütten und versuchten gar, den Spalt in dem riesigen Ast mit Seilen zu verzurren. Alles andere gelang, doch das nicht: Eine heulende Bö fuhr ins Geäst, und mit markerschütterndem Krachen spaltete sich das Holz endgültig und riss die Hütten in die Tiefe. Als das große Licht des Tages endlich aufstieg, sahen die nassen, erschöpften Menschen ein Nest in Trümmern liegen.

Doch nun, da der Sturm sich gelegt hatte, kamen sie von überall zu Hilfe. Die Leik, die Non, die Heit, sogar die Mur vom Rand der Hochebene schickten Handwerker, Werkzeug und Holz, und bald wuselte der Nestbaum der Ris wie ein Süßmückennest. Als die Hütten wieder aufgebaut waren, wurde ein Fest gefeiert, wie man es nur feiern kann, wenn man gemeinsam eine Katastrophe bewältigt hat, und Omoris, die Älteste des Nests, dankte ihnen allen mit bewegenden Worten.

Bei diesem Fest lernte Owen Eiris kennen, die Tochter des Signalmachers.

Um genau zu sein, war sie ihm schon in der Nacht des Sturms aufgefallen. Er hatte neben ihr gestanden, als hundert Hände auf ein Kommando an den Spannseilen zogen, während der Sturm heulte und jaulte und sie alle von den Plattformen fegen wollte, und einmal hatte er sie festgehalten, als sie mit einem schweren Sack auf den Schultern ins Straucheln geraten war. Warm und anmutig hatte sie einen herrlichen langen Augenblick in seinen Armen gelegen, ehe sie sich fing, weil die Arbeit weitergehen musste.

Jetzt, bei Tag, gefiel sie ihm noch besser. Sie hatte ein schmales Gesicht, eine Figur von zarter Schönheit und schlanke, helle Flügel, sie hörte ihm aufmerksam zu, wenn er etwas sagte, und sah ihn mit dunklen, rätselhaften Augen dabei an. Oft wusste er allerdings nichts zu sagen, saß nur da und kam sich hilflos und dumm vor, aber Eiris blieb trotzdem bei ihm sitzen. Als es Zeit war, nach Hause zu gehen, fasste Owen endlich Mut und fragte sie, ob er sie wiedersehen dürfe. Sie zögerte einen Moment, der Owen das Herz bis zum Hals hinauf schlagen ließ, dann sagte sie: »Ja. Gern.«

In den Tagen, die folgten, sah man sie oft unter den Klippen spazieren, stundenlang am Strand entlang, Muscheln auflesen und ins Wasser werfen und reden dabei. Oder sie zogen weite Kreise über dem Meer, haschten und neckten einander, um sich später in einer bemoosten Astgabel hoch über einer verlassenen Schlucht auszuruhen. Dort küssten sie sich das erste Mal. Owen wäre beinahe vom Baum gefallen dabei.

»Was ist dein größter Traum?«, fragte Eiris ihn eines Tages.

»Die Sterne zu sehen«, erwiderte Owen und erschrak, denn das hatte er noch nie jemandem erzählt.

»Die Sterne? Aber man kann die Sterne nicht sehen. Sie sind jenseits des Himmels.«

»Ja«, sagte Owen. »Ich weiß.«

Sie sah ihn so seltsam an dabei, dass er es wagte und ihr alles erzählte. Wie er die Höhe des Himmels gemessen hatte. Wie er trainiert hatte, wie er den Schwung der Pfeilfalken erlernt und schließlich den Himmel berührt hatte. Und wie es dann nicht mehr weitergegangen war.

Eiris umarmte ihn, und ihm war, als habe sie Tränen in den Augen. »Du musst weitermachen«, flüsterte sie ihm zu. »So einen wunderbaren Traum darfst du nicht aufgeben. Ich glaube an dich, Owen. Jemand, der es geschafft hat, den Himmel zu berühren, wird es eines Tages auch schaffen, die Sterne zu sehen.«

Das zu hören ließ Owen sich unendlich stark fühlen. Hätte sie es verlangt, er wäre ohne zu zögern losgeflogen, den Himmel ein zweites Mal zu erklimmen. Aber sie verlangte es nicht.

So verging ein Jahr, und als die Trockenzeit wiederkam, versprachen Owen und Eiris einander endlich, wie es jeder geahnt hatte. Das gab wieder ein Fest. Die Handwerker der Wen und der Ris zimmerten den jungen Leuten eine Hütte, und anschließend wurde so viel vergorener Eisfrüchtewein getrunken, dass manch einer fast vom Baum gefallen wäre. Owen aber hatte beschlossen, bei Eikor, Eiris Vater, in die Lehre zu gehen und das Handwerk eines Signalmachers zu erlernen.

Der Signalmacher hatte seine Werkstatt in einer Höhle in einem einsamen, kantigen Felsen bei den Klippen, weil seine Arbeit zu gefährlich war, um sie im Nest auszuüben. Owen lernte, wo man nach den Mineralien für die Ingredienzen grub, welche Pflanzen man trocknen musste und wie man sie zerrieb, wie man Signalpulver anmischte und Treibmasse kochte, wie man eine Feuerschnur fertigte und wie man sie anbrachte. Für die Signale nahm man die ausgehöhlten Samenschoten des Ratzenstrauchs: Zuerst kam eine Ladung Signalpulver hinein, dann die zähe Treibmasse, in die man die Feuerschnur hineinschob, ehe sie erstarrte. Zum Schluss wurden drei Flügel angebracht, um den Flug zu stabilisieren, und alles zu einem griffbereiten, regendichten Paket verpackt. Eikor war der einzige Signalmacher der Küstenlande, er versorgte alle Stämme im weiten Umkreis.

Das erste Signal, das Owen allein machte, explodierte, als er die Feuerschnur zog, und hinterließ einen enormen schwarzen Fleck auf dem steinigen Strand, den erst die Flut wegspülte. Doch bereits das dritte Signal schoss hoch empor und verging in einem hellen weißen Feuerball, neben dem das große Licht des Tages für einen Moment verblasste.

Und wenn Owen abends in die Hütte zurückkehrte, sich den Ruß aus dem Gesicht wusch, die Ratzenkleie aus den Haaren kämmte und endlich Eiris in die Arme schließen konnte, war er der glücklichste Mensch der Welt.

Die Regenzeit kam, in der die Feuerbeeren nicht trockneten und die Ratzenschoten weich wurden von der Feuchtigkeit. Owen und Eikor rieben Salpeterstein stattdessen, schnitzten Flügel aus Kiurkaholz und flochten Fasern zu Schnüren. Dann kam die Nebelzeit, und der Anblick der Nebelbänke über den Klippen und dem dunkelgrünen, stillen Meer rief in Owen die Erinnerung wieder wach an seinen Aufstieg zum Himmel und an seine Sehnsucht, die Sterne zu sehen.

Eines Tages, als die Frostzeit bereits wieder nahte, versuchte er es erneut. Diesmal war es Eiris, die ihm Hiibufett in die Flügel einrieb, und er fühlte sich stark und glücklich, als sie ihn zum Abschied umarmte. Schon als er sich von der Sprungkante stieß, wusste er, dass er es wieder schaffen würde. Diesmal flog er mit ruhigen, sparsamen Bewegungen, und obwohl er den Schwung der Pfeilfalken das ganze Jahr über nicht geübt hatte, glückte er ihm auf Anhieb wie selbstverständlich. Er stieg höher und höher, ließ die Welt unter sich zurück, rang mit der Höhe und dem Himmel, doch er war ruhiger diesmal, zuversichtlicher, und erst jetzt merkte er, wie viel Kraft ihn beim ersten Mal die Frage gekostet hatte, ob es überhaupt zu schaffen war.

Aber leicht war es dennoch nicht. Irgendwann war wieder alles vergessen, das Nest, Eiris, die ganze Welt, und es gab nur noch Schwünge und Pausen, Schwünge und Pausen, schmerzende Brustmuskeln und Flügelgelenke, beißende Kälte und einen Himmel, dem näher zu kommen mit alles durchdringender Erschöpfung bezahlt werden musste. Erst als er wieder dicht unter dem brodelnden Wolkendach des Himmels schwebte, erlaubte sich Owen ein Lächeln und einen Schrei des Triumphs.

Wie er es Eiris versprochen hatte, zog er ein Signal aus der Tasche, das er eigens für diese Gelegenheit gebaut hatte, mit grünem Signalfeuer statt dem roten, das einen Notfall anzeigte. Er hielt es mit ausgestrecktem Arm von sich, richtete es auf die Wolken über sich und riss die Feuerschnur. Mit heißem Fauchen schoss es davon, bohrte sich in das Firmament und verschwand, und einen Augenblick später loderte ein gewaltiges grünes Licht über ihm auf, größer und wilder, als er es erwartet hatte, fast so, als hätte der Himmel Feuer gefangen.

In diesem Augenblick kam ihm die Idee.

»Ich habe es gesehen!«, rief Eiris schon von weitem, als er zurückkam. »Der ganze Himmel hat aufgeleuchtet, so hell wie das kleine Licht der Nacht!«

Owen war erschöpft und unsagbar ausgelaugt, doch es war nicht so schlimm wie beim letzten Mal. Er schloss Eiris in die Arme und sagte: »Das Signal muss auf der anderen Seite des Himmels explodiert sein. Ich bin sicher, dass es so war.« Dabei dachte er an die Idee, die ihm gekommen war, doch inzwischen machte sie ihm Angst, und er wagte nicht, darüber zu sprechen.

Die Frostzeit brach an. Eiris und Owen rösteten ihre eigenen Kiurka-Samen, hörten dem Klirren der vereisten Lianen zu und freuten sich aneinander. Eikor lieh Owen seine alten Bücher über das Signalmachen, und Owen studierte sie im fahlen Licht der kurzen Tage. Als die Trockenzeit kam, zog er bisweilen los, um das Unterholz zu durchstreifen. Von diesen Streifzügen brachte er zu Eiris’ Verwunderung allerhand große Samen, Beeren und Nüsse mit, die er zu Hause sorgfältig zerlegte und untersuchte, als sei er unter die Naturforscher gegangen. Auf ihre Frage, was er vorhabe, meinte Owen nur, er müsse etwas ausprobieren.

Seine Wahl fiel schließlich auf die armlangen Riesenbaumnüsse. Er borgte sich von einem der Zimmerer einen Bohrer und ein Schabmesser und höhlte die Nuss von ihrem stumpfen Ende bis zur Spitze aus. Dazu brauchte er mehrere Abende, und am Schluss hatte er eine lange, hohle Nussschale, die er mit Treibmittel füllte. »Kein Signalpulver«, erklärte er dem verwunderten Eikor. »Ich will nur eine Rakete machen, kein Signal.«

»Und wozu soll das gut sein?«, fragte Eiris' Vater.

»Einfach so«, sagte Owen und drückte die Feuerschnur hinein.

Die erste Rakete zerriss es in tausend Fetzen, kaum dass sie ein Stück gestiegen war. Owen nahm die nächste Nuss und machte sich wieder daran, sie auszuhöhlen, ließ diesmal aber eine Schicht Fruchtfleisch unter der Schale stehen. Diese zweite Rakete explodierte erst hoch über dem Meer. Als die Trockenzeit begann, flogen Owens Raketen weit und explodierten nicht mehr – bloß war keinem klar, wozu das gut sein sollte.

Einzig Eiris ahnte, was Owen vorhatte. Ihr Gesicht war voller Sorge, wenn sie ihm zusah, wie er an den Riesenbaumnüssen arbeitete.

Als Owen eines Abends eine Rakete auf eine Lastentrage band und die Feuerschnur zog, musste er feststellen, dass sie zu stark war für die hölzernen Tragegestelle. So flog er bei nächster Gelegenheit mit zum Luuki-Markt und erstand eine Trage aus Metall, die nicht nur stabiler, sondern auch leichter war als die normalen aus Holz. Auf dieser Trage befestigte er eine Rakete, die er mit besonderer Hingabe gefertigt hatte, dann stellte er alles in die Ecke und redete den Rest des Jahres nicht mehr darüber.

Die Regenzeit kam und ging wieder, die Nebelzeit brach an, und als die Frostzeit nahte, sah Owen manchmal abends zum Himmel hoch, aber er sagte nichts davon, es noch einmal zu versuchen. Als Eiris ihn fragte, wandte er sich ab und sagte: »Nächstes Jahr vielleicht.«

Doch Eiris nahm seine Hände in die ihren und sah ihm in die Augen mit jenem Blick, mit dem sie seine Seele erreichte. »Schau, Owen«, sagte sie, »es ist dein Traum und deine Sehnsucht. Du musst entscheiden, was du tun willst, und ich werde dich lieben, wie immer du dich entscheidest. Aber zwei Dinge musst du bedenken. Erstens wirst du nicht für alle Zeiten so stark sein, wie du jetzt bist. In ein paar Jahren wirst du es nicht mehr bis zum Himmel schaffen, erst recht nicht mit einem Gestell auf dem Rücken. Und zweitens werde ich vielleicht schon nächstes Jahr unser Kind tragen, und dann darfst du kein solches Risiko mehr eingehen. Wenn du es tun willst … wenn du es tun musst, dann tu es jetzt. Oder begrabe den Traum für alle Zeiten.«

Owen versank in ihrem Blick. »Ich habe Angst davor, was mich erwartet«, bekannte er leise. »Auf der anderen Seite des Himmels.«

Er sah Tränen in ihren Augen auftauchen. »Die Sterne, Owen«, flüsterte sie. »Die Sterne.«

»Ich könnte sterben dabei.«

»Ich weiß, Owen. Und es würde mir das Herz brechen. Aber ich werde dich nicht bitten zu bleiben, nur um meiner Angst willen. Wenn du deine Angst bezwingst, will ich meine auch bezwingen.«

Sie hielten sich an den Händen, sahen einander an für eine Zeit, die nicht zu enden schien. »Morgen Abend«, sagte Owen zuletzt. »Und ich werde zurückkommen und dir von den Sternen erzählen.«


Lesen Sie weiter in Teil 3 (ab 1.9.2020) oder in:

"Eines Menschen Flügel"
Roman von Andreas Eschbach
Bastei-Lübbe, Köln
ISBN 978-3-7857-2702-7
Erscheint am 30. 9. 2020