Freiheitsgeld

 

Freiheitsgeld

Roman
von
Andreas Eschbach


 

 

PROLOG

Ende August 2063

Nicht nachdenken, machen, sagte Zoe gern, und: Wer vorher lang überlegt, traut sich nachher nicht mehr.

Das fiel ihm ein, als er sich durch das aufgeschnittene Drahtgitter zwängte, um seiner Freundin zu folgen, die schon hoch über ihm kletterte, hurtig wie eine Akrobatin. Hinauf! Ganz nach oben!

Hätten sie sich nicht etwas anderes aussuchen können als ausgerechnet das Ulmer Münster? Zu Hause, in Zoes Bett, als sie darüber geredet hatten, hatte es wie eine großartige Idee geklungen. Der höchste Kirchturm der Welt! Wahnsinn. Einhunderteinundsechzig Meter, das klang nicht nach viel, wenn man unten auf dem Platz stand und hinaufschaute. Aber von hier oben – Junge, Junge!

»Schnell!«, rief Zoe von oben. »Die Sonne geht gleich auf!«

»Schon unterwegs«, ächzte er und schob sich an den dicken Gittern vorbei, die verhindern sollten, dass jemand das machte, was sie hier machten: die Spitze des Turms erklimmen.

Er trug ja den Rucksack mit der ganzen Ausrüstung – klar, dass er nicht so schnell vorankam, oder? Außerdem hatte er feuchte Hände – gefährlich, gefährlich! – und seine Knie fühlten sich ein bisschen zittrig an.

Nicht hinabschauen! Klang wie ein guter Rat, war aber undurchführbar. Er musste ja die Perspektive bestimmen, um alles aufzunehmen. Wenn sie das schon durchzogen, dann sollte es auch gut aussehen. Er hielt keuchend inne, als er die erste der Metallsprossen erreicht hatte, die zur Turmspitze hinaufführten. Zoe turnte über ihm herum, hatte sich an der obersten Sprosse eingehakt, machte Dehnübungen.

»Wahnsinn!«, rief sie zu ihm herab. »Das wird noch besser, als ich´s mir vorgestellt hab. Wir werden weltberühmt, was sagst du dazu?«

»Super«, ächzte er und hakte sich ebenfalls fest, um die Hände frei zu haben für die Steuerung der Videodrohne.

»Mann, und in zwei Monaten sind wir achtzehn und kriegen das volle Freiheitsgeld! Was machen wir denn dann?« Sie strahlte da oben, strahlte wie ein Stern.

»Wird uns bestimmt was einfallen.« Er hatte es geschafft, sich den Rucksack vom Rücken zu zerren, holte die Drohne heraus, entfaltete sie und ließ sie aufsteigen. Über sein Pod kontrollierte er, was sie sah.

»Wir könnten nach Paris fahren, auf den Eiffelturm«, überlegte Zoe. »Dreihundert Meter! Doppelt so hoch wie der hier, stell dir vor!«

Sah gut aus. Die Straßenbeleuchtung auf den Hauptstraßen da unten war noch an, der Himmel graublau, im Osten leuchtete es rötlich. Er atmete tief durch. Jetzt bloß nicht das Pod fallen lassen!

»Okay«, rief er. »Hast du den Peiler an?«

Zoe nestelte an ihrer Jacke herum. »Läuft!«

Man merkte es sofort. Im selben Moment, in dem sie den Peilsender einschaltete, richtete sich die Videodrohne auf sie aus, hielt sie präzise im Fadenkreuz. Er würde gar nichts machen müssen, nur hinterher das Ding wieder einsammeln.

»Die Sonne!«, jubelte Zoe. »Ich fang an, sobald ihr Licht die Turmspitze berührt, okay?«

»Ja, Aufnahme läuft«, rief er zurück und wischte sich rasch die Hände an seiner Jacke ab. Kühl war es für einen Morgen im August. Lag wahrscheinlich an der Höhe. »Mach einfach.«

Er merkte, wie er ruhiger wurde, jetzt, wo alles so lief, wie sie es geplant hatten. Die Drohne orientierte sich an Zoes Peiler, sorgte automatisch dafür, dass sie gut im Bild war. Und sie nahm alles in SuperReal Plus auf, in höchster Bildqualität.

Die Sonne kroch höher. Das, was bis eben noch ausgesehen hatte wie ein dunkelgraues Meer, verwandelte sich in ein Labyrinth rotbrauner Dächer. Die Donau glänzte geheimnisvoll.

Zoe hatte sich mit einem dünnen, grellgrün ummantelten Stahlkabel an der obersten Sprosse gesichert. Das Kabel trug bis zu drei Tonnen, das würde garantiert nicht reißen. Und die Software der Drohne konnte dieses spezielle Grün in Echtzeit herausrechnen; er würde hinterher höchstens noch ein paar Schatten wegretuschieren müssen. Kleinigkeit.

»Jetzt!«, rief Zoe. »Ich spring dann!«

»Alles klar.«

Er konnte nicht anders, er musste den Blick vom Pod nehmen und hochschauen. Er musste mit eigenen Augen verfolgen, wie sich Zoe von dem alten, grauen Stein der Kirchturmspitze abstieß und nach draußen schnellte, weit und mit ausgebreiteten Armen, sodass es einen Moment lang aussah, als schwebe sie über der Stadt.

Dann aber fiel sie natürlich, das Stahlseil straffte sich, und sie knallte mit brutaler Wucht gegen die Steine, die fest gefügt seit Jahrhunderten gen Himmel ragten. Er zuckte zusammen von dem dumpfen Schlag.

»Alles okay?«, fragte er.

»Ja, ja«, keuchte sie. »Was ist? Wie ist es geworden?«

Er setzte den Bildlauf mit zittrigen Fingern ein Stück zurück, betrachtete die Aufnahme. »Gut«, sagte er. »Das wird echt gut.«

»Sag ich doch.« Sie angelte nach den Sprossen, kletterte wieder in dieselbe Position wie vorhin. »Ich spring einfach weiter, oder?«

»Ja, klar.« Er räusperte sich. »Wär auch gut, du beeilst dich. Der Hintergrund verändert sich verdammt schnell.«

Sie lachte. »Ist doch gut so. Das ist die Challenge!«

Das Video, das sie machten, waren nämlich für die Free-from-all-Challenge gedacht, die derzeit in den Netzen lief. Das Prinzip war einfach: Man sprang so in die Höhe, dass es für einen Moment schien, als unterläge man nicht mehr der Schwerkraft. Das wiederholte man mehrmals – so oft wie möglich – und montierte die einzelnen Aufnahmen dann zu einem Video, in dem es aussah, als schwebe man in der Luft.

Es gab bereits eine Menge solcher Videos, aber die meisten waren eher langweilig: Hunderte, auf denen jemand scheinbar mit angezogenen Beinen eine Treppe herabschwebte. Und ähnlich banales Zeug.

Der bisherige King der Challenge war ein Typ aus den USA, den man über einen komplett gedeckten Tisch hinweg schweben sah – absoluter Wahnsinn! Es gab auch ein Making of dazu, in dem er zeigte, wie er das gemacht hatte: Er hatte sich mithilfe eines Trampolins, das nicht im Bild war, sage und schreibe siebenundvierzigmal über den Tisch katapultiert, und er hatte nach jedem Sprung alles, was dabei an Gläsern und Geschirr kaputtgegangen war, ersetzt und haargenau wieder so aufgestellt wie vorher, und das so akkurat, dass man es überhaupt nicht bemerkte.

Das war das Video, das es zu schlagen galt. Zoe wollte aussehen, als schwebe sie, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz, um die Spitze des Ulmer Münsters herum.

Nach ihrem dritten Sprung konnte er nicht mehr hinaufschauen, verfolgte nur noch auf seinem Pod, wie es aussah. Sie machte das unglaublich gut. Wie sie die Arme ausbreitete, eine Tänzerin in der Luft, locker, unbeschwert, der Gravitation entrückt …

Aber eben immer nur für einen winzigen Moment. Dann ging es wieder nach unten und WOMM! ZACK! gegen die Turmspitze, dicht über den Wasserspeiern.

»Das wird gut«, sagte er, als sie, nach dem siebten oder achten Sprung, eine Weile keuchend verharrte. Es strengte sie an. Sie hatte das geübt, allerdings an einer Bretterwand in der Turnhalle ihrer Schule. Gegen Holz zu prallen war gnädiger als gegen Stein.

»Du wirst jede Menge blaue Flecken haben nachher«, unkte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Egal.«

Jetzt spähte er doch hinab, hatte plötzlich das Gefühl, dass man sie schon entdeckt hatte, dass sie beobachtet wurden … Nein, war nicht so. Da unten liefen zwar ein paar Gestalten über den Münsterplatz, aber niemand sah hoch.

»Gut, weiter«, sagte Zoe, mehr zu sich selbst. »Nicht nachdenken, machen.« Kletterte wieder hinauf, holte kurz Luft und sprang erneut hinaus ins Leere.

Dass sie sich das traute! Er prüfte unwillkürlich sein eigenes Haltekabel, schwarzgrau, gewöhnlich, aber stabil genug, dass man ein Auto hätte dranhängen können.

Zoe sprang, machte in der Luft Posen wie ein Engel in ihrer bauschigen, bunten Jacke, knallte gegen den Turm, kletterte wieder hoch und sprang erneut.

»Wie viele waren das jetzt?«, wollte sie irgendwann wissen.

»Dreiundzwanzig«, sagte er, so erschöpft, als sei er selber gesprungen. »Das reicht dicke. Sind echt gute dabei. Hammer.«

»Einen noch, hmm? Vierundzwanzig ist ´ne runde Zahl. Die Weihnachtszahl.«

Er schüttelte den Kopf, spürte seine Knie, die wie Pudding waren und mit denen er wieder da runter klettern sollte. »Nee, komm, lass gut sein. Was wir haben, reicht. Die Sonne ist jetzt eh zu hoch.«

»Einen noch«, beharrte Zoe und kletterte zurück nach oben.

»Zoe! Bitte.«

Sie grinste so hinreißend frech, wie er sie am liebsten sah, hauchte einen Kuss in die Kamera, die Zoe mit roboterhafter Zuverlässigkeit in der Mitte des Bildes hielt. Dann schwang sie vor, zurück, vor, zurück … und stieß sich noch einmal ab.

Es war nicht das grellgrüne Kabel, das riss, sondern die uralte Sprosse, an der sie es befestigt hatte. Zoe flog hinaus, weit, viel zu weit, die Arme ausgebreitet, Entsetzen im Gesicht, als sie begriff, was geschah.

Nichts konnte ihren Sturz in die Tiefe aufhalten. Einhunderteinundsechzig Meter. Und die Drohne, die ihrem Peilsender treu folgte, raste hinterher und filmte alles, bis zum Aufschlag.

Zoes Freund und Komplize, der es mitangesehen hatte, war danach außerstande, hinabzuklettern. Weinend und zitternd klammerte er sich an die Sprosse, an die er sich gebunden hatte, bis man ihn entdeckte und ein Feuerwehrmann kam, um ihn zu holen. Er war es, der den Polizisten sagte, um wem es sich bei der total entstellten Leiche des Mädchens handelte: Um Zoe Havelock, die Urenkelin des ehemaligen Bundeskanzlers und späteren EU-Präsidenten Robert Havelock, der knapp dreißig Jahre zuvor das System des Freiheitsgelds in der Europäischen Union eingeführt hatte.

Die Polizei beschlagnahmte die Drohne und das Video, aber die Aufnahme ihres Sturzes geriet trotzdem irgendwie ins Netz. Noch ehe der September des Jahres 2063 anbrach, hatten es mehr als eine Milliarde Menschen gesehen.


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"Freiheitsgeld"
Roman von Andreas Eschbach
Bastei-Lübbe, Köln
ISBN 978-3-7857-2812-3
Erscheint am 26. 8. 2022